Das Dorf Rhade liegt an der nördlichen Grenze des Ruhrgebiets. Mit seinen gut 5000 Einwohnern hat es kulturell erwartbar eher wenig zu bieten. Und doch pflegt hier, zwischen Landwirten und Heimatverein, ein einzelner Familienbetrieb die hohe Kultur des klassischen Schneiderhandwerks. Von Hause aus nur für Herren, seit 120 Jahren in einer Remise hinter dem Wohnhaus. Frei von Allüren, bodenständig und buchstäblich Preis-Wert. Die Familie, der Schneider heißt, ernsthaft: Schneider.

Ich hatte schon mal 2007 den Weg nach Rhade gesucht und mir von Karl-Heinz Schneider einen Glencheck-Anzug nähen lassen. Den schwarz-weiß karierten Stoff dafür, aus dem damals schon letzten Jahrhundert, hütete er in seiner Werkstatt zwischen vielen Dutzend Ballen historischer Stoffe für Männer. Genauso wie das perfekte Original-Schnittmuster (!) eines Anzugs der 1930er Jahre: Zweireihig, hochgeschlossen mit breiten Revers (Spitzfassons, die fast über die Schulter reichen) und mit der zeittypischen weiten Bundfaltenhose. Für Damen hieß deren Schnitt damals populär „Marlene“, er war doch aber eigentlich für Männer. Eine frühes Signal der Emanzipation (oder kultureller Aneignung?).
Nun war ich jüngst wieder in Rhade und Herr Schneider auch immer noch in seiner Werkstatt. Man kann ihn sich mit weit ausholender Nadel und flottierendem Faden auf dem Tisch sitzend vorstellen. Mittlerweile in seinen Siebzigern erkannte er mich sofort und wusste genau, welchen Anzug in welchem Stoff er mir vor fast zwanzig Jahren schneiderte. Dieses Mal hatte ich vorher auf einem Antikmarkt einen schönen, begeisternd schweren Anzugstoff aus den 1950er-Jahren gefunden, 3,80 m in der Länge. Aus so einem Wollgewebe würde man heute bestenfalls Wintermäntel nähen. Wenn es solche Stoffe noch gäbe. Sagte auch Herr Schneider.

Ich wusste, was ich daraus machen (lassen) wollte und Herr Schneider verstand es sofort: Einen dreiteiligen, einreihigen Anzug, ein unkonstruiertes Sakko ohne Schulterpolster, eine hochgeschlossene Weste, eine Hose mit zwei Bundfalten, weit geschnitten mit schmaler Fußweite und extra breiten Umschlägen: 5 cm, das ist viel. Herr Schneider war angetan vom besonderen Wunsch, näht er doch im Tagesgeschäft meist eher Uniformen für die Schützenvereine, Blaskapellen und so weiter. Was man halt so trägt, beim verbindenden Brauchtum auf dem Land.
Es hat ein paar Wochen, mit Urlauben und so ehrlich gesagt eher Monate gedauert, bis der Anzug, nach einer Anprobe auf halber Strecke, heute fertig war. Gut Ding will Weile haben. Die Geduld hat sich mehr als gelohnt. Herr Schneider näht keine feinen Anzüge á la Savile Row oder Via Montenapoleone. Er schneidert robust, westfälisch, für die Ewigkeit. Es ist ein ehrlicher, exzellent verarbeiteter Anzug geworden, dem man die Handarbeit ansieht, der einen aber nicht zum Dandy macht. Es gibt ein paar Details in den Nähten, dem Schulterverlauf, die man als cleane Konfektion, als (übrigens teurere) Stangenware von Boss & Co., beim Lohnfertiger in Asien als Makel monieren würden. Von Herrn Schneider trägt man sie stolz als Markenzeichen des Handwerkers alter Schule. Denn ein eingenähtes Label gibt es von ihm natürlich nicht. Er ist ja kein Designer, sondern Herrenschneider. Der ehrlichste, den ich kenne. Hoffentlich sitzt er noch lange im Schneidersitz auf seinem Tisch und näht einfach perfekte Anzüge.
Karl-Heinz Schneider
Herrenschneiderei Franz Schneider (gegr. 1906)
Erler Str. 54, 46286 Dorsten-Rhade
Tel. 02866-4107
natürlich keine Webseite.


schön von Dir zu hören. Dann als nächstes ein pict von Dir und dem Anzug:-)
So ein wunderschön zu lesender Text Herr von Keyserlingk – und welch ein
beeindruckender, tapferer Schneider, der seiner Zunft bis heute treu
geblieben ist! Man versetzt sich emotional in seine historische
Werkstatt und erwartet (leider vergeblich) das Foto, das Sie mit
passendem Schuhwerk in dem perfekt sitzenden Anzug zeigt, der Ihnen auf
den Leib geschneidert wurde und dessen Stoff so lange auf die verdiente
Sichtbarkeit gewartet hatte.
Herzliche Grüße,
Clarissa Delpy