Es lebe die Krawatte!

Es ist tragisch. Die meisten Männer der aktuellen Generationen verzichten freiwillig und praktisch ersatzlos auf das einzige Merkmal schmückender Individualität, das sie ihrem täglichen Auftritt gönnen können: Sie verzichten auf die Krawatte.
Zeit für ein Plädoyer. Und Mutmachung für eine maskuline Emanzipation.

Im letzten Jahrhundert hatte ich die Gelegenheit, in Mailand eine traditionelle Krawattenmanufaktur zu besuchen. Es war ein Loft in einem Gewerbegebiet, frei von jeglicher Atelier- oder Moderomantik, doch haben abertausende Ballen feinster Seiden-, Woll- und Leinenstoffe bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dieses intime Eintauchen in ein Handwerk schuf eine nachwirkende, persönliche Verbindung mit der Kultur des Produkts (etwa so wie nach dem Besuch eines Glasbläsers oder einer Bierbrauerei). Noch Tage nach dem Besuch fand ich jedenfalls in jeder Falte meiner Kleidung und im Gepäck immer neue, flottierende Seidenfäden, die sich beim Umgang mit den Stoffen in der Manufaktur naturgemäß ihre Wege suchen, die Körper, Raum und Zeit förmlich benetzen – und ein Faden schöner als der andere.

Wer sich für seine äußere Wirkung interessiert und jemals einen guten, idealerweise italienisch oder britisch geprägten, Herrenausstatter besucht hat, kennt vielleicht die dort herrschende, ganz eigene Magie: Eine gekonnt geschneiderte Paßform der Anzüge, Sakkos und Hosen, schmeichelnder Fall hochwertiger Stoffe, die raffinierte Auswahl dazu passender Oberhemden und schließlich die Königsdisziplin: das „Kuratieren“ der alles abrundenden Krawatte. Der Prozess ist mit diesem, aus der Kunstwelt geliehenen, Begriff keinesfalls zu dramatisch beschrieben, denn es geht um nichts weniger als einen kulturellen Akt der Komposition. Und um eine ordentliche Portion Spaß. Dazu unten mehr.

Bis mindestens in die 1980er Jahre hinein war die Krawatte aus dem beruflichen und gesellschaftlichen Leben hierzulande nicht wegzudenken. Seither schleift sich eine paradoxe Umkehr in der Wahl des richtigen Männer-Outfits ein: War es früher ganz selbstverständlich angemessen, im Theater, zum Meeting oder einfach nur (zumindest hin und wieder) im Büro mit einer Krawatte zu erscheinen – weil dies ein Ausdruck des Respekts gegenüber des besonderen Anlasses, des Gegenübers oder des eigenen Jobs war – wird dies heute weitgehend umgekehrt gelebt:

Eine Krawatte zu tragen gilt nicht länger etwa als angepasst oder spießig. Es herrscht schlicht die landläufig überwiegende Meinung, man habe als ohnehin schon markante Persönlichkeit „Krawatte“ nicht nötig. Wo Vorstandsvorsitzende von Aktiengesellschaften, Politiker und andere Herren des öffentlichen Interesses längst mit offenen Hemdkragen auftreten, kann man es ihnen doch einfach gleichtun. Im Gegenteil: wirklich souverän scheint gerade derjenige zu wirken, der sich bewußt „underdressed“ gibt, eben weil er es kann. Und weil keiner daran Anstoß nimmt – im Gegenteil eher Anstoß daran nehmen könnte, wenn eine Krawatte getragen wird.

Was sich Männer an Alleinstellungsmerkmalen in der Wirkung (und Spaß, s.u.) im Alltag vergeben, wenn sie auf die Krawatte verzichten, ist aber mit vermeintlicher Coolness und dem Eindruck „das für den Status nicht zu brauchen“ nicht auszugleichen. Zumal man aus freiem Willen auf eine täglich neue Chance des individuellen Eindrucks verzichtet und damit zwischen all den Typen, die eine Krawatte auch nicht brauchen, plötzlich genau so angepasst ist, wie man es doch vielleicht nun gerade nicht sein wollte… . Es ist kompliziert.

Also, zum Spaßfaktor der Krawatte: Natürlich kommt nur Freude an der eigenen Individualität auf, wenn einem auch gefällt, was man trägt. Das ist selten das dröge, nur schlaff drapierbare, Standardteil, das womöglich als einsamer Pflichtbinder für ungeliebte Anlässe im Schrank hängt. Stattdessen geht es um das Spiel mit Farbkombinationen, Mustern und Materialstrukturen. Es gibt Krawatten in allen Preislagen und Variationen und ein Fun-Faktor stellt sich erst ein, wenn man anfängt, mit den Varianten zu spielen. Wenn man sein Outfit mit Sakko oder Blazer zum bequem passenden Oberhemd mit einer, möglichst individuellen, Auswahl an wechselnden Krawatten kombinieren kann. Auf jeden Fall erzielt das bewußte Spiel mit der eigenen äußeren Wirkung eine ebensolche auf das persönliche Umfeld, gerade und besonders im „Alltag“, wenn die breite Masse sich in ihrem immer gleichen, unbedachten Standardauftritt eingerichtet hat.

Jede Krawatte hat quasi eine eingebaute Automatik der Wertschätzung: Tragen Sie eine, strahlen sie eine anerkennende Haltung aus, die nie deplaziert oder anmaßend wirkt. Sie können noch so übel gelaunt oder demotiviert zu einem Empfang, einem Geschäftsessen, einer Party gehen – mit der Krawatte haben Sie eine buchstäbliche Verbündete, die ihnen die gute Laune abnehmen und für Sie die Rolle des mehrwertstiftenden Gastes übernehmen kann. Nur eine Regel gibt es: legen Sie niemals die Krawatte ab, wenn es dann doch später wird oder heißer her gehen sollte. Das wäre Verrat an der gemeinsamen Sache. Lockern ist okay, aber nicht abnehmen! Spät in der Nacht, wider Erwarten doch auf der Tanzfläche gelandet, am besten mit hoch über die Ellenbogen aufgerollten Ärmeln, das Hemd längst irreversibel aus der Hose gerutscht, aber die Krawatte über der Schulter … das ist dann Ihr persönliches Statement selbstbewußter Konsequenz. Während alle anderen in der uniformen Flut der offenen Kragen untergehen mögen.

Abschließend noch zu einem Ehepaar, das ich kürzlich auf Instagram entdeckte und das eine persönliche und professionelle Leidenschaft mit dem Kulturgut Krawatte verbindet: Marta und Gianni Cerutti sammeln Vintage-Stoffe aus dem letzten Jahrhundert und nähen daraus per Hand (!) Krawatten, die sie weltweit verschicken. Man bekommt sie auf Wunsch auch in individuellen Maßen oder mit den eigenen Initialien bestickt. Auf der Webseite ihrer Manufaktur Passaggio Cravatte, die die beiden bei sich Zuhause in Norditalien eingerichtet haben, lernt man, warum ungefütterte Krawatten ein Qualitätsmerkmal sind und welche Vielfalt an Stoffen und Materialien wie verarbeitet werden können. Die Seite ist ein Paradies für Krawattenfans und solche, die es werden könnten. Auch wenn man dort nur schaut statt zu kaufen. Man muss sich nur mal wieder darauf einlassen und Lust auf eine treue Verbündete haben.

Titelfoto: Grazie a passaggiocravatte.com!

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