Im Suk von Marrakesch.

Der Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti (1905-1994) hat in seinem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“ (1968) das Wesen der arabischen Suks (Basare) wunderbar beschrieben. Hier ein Auszug daraus, der zugleich sachliche Beschreibung und Liebeserklärung an den Handel ist.

SoukAleppo_Wikipedia
Foto: Wikipedia

Die Suks

Es ist würzig in den Suks, es ist kühl und farbig. Der Geruch, der immer angenehm ist, ändert sich allmäh­lich, je nach der Natur der Waren. Es gibt keine Namen und Schilder, es gibt kein Glas. Alles, was zu verkaufen ist, ist ausgestellt. Man weiß nie, was die Gegenstände kosten werden, weder sind sie an ihren Preisen aufgespießt, noch sind die Preise fest.

Alle Gelasse und Läden, in denen dasselbe verkauft wird, sind dicht beieinander, zwanzig oder dreißig oder mehr von ihnen. Da gibt es einen Bazar für Gewürze und einen für Lederwaren. Die Seiler haben ihre Stelle und die Korbflechter die ihre. Von den Teppichhändlern ha­ben manche große, geräumige Gewölbe; man schreitet an ihnen vorbei wie an einer eigenen Stadt und wird bedeu­tungsvoll hineingerufen. Die Juweliere sind um einen be­sonderen Hof angeordnet, in vielen von ihren schmalen Läden sieht man Männer bei der Arbeit. Man findet alles, aber man findet es immer vielfach.

Die Ledertasche, die man möchte, ist in zwanzig ver­schiedenen Läden ausgestellt, und einer dieser Läden schließt unmittelbar an den anderen an. Da hockt ein Mann inmitten seiner Waren. Er hat sie alle ganz nah bei sich, es ist wenig Platz. Er braucht sich kaum zu strecken, um jede seiner Ledertaschen zu erreichen; und nur aus Höflichkeit, wenn er nicht sehr alt ist, erhebt er sich. Aber der Mann im Gelaß neben ihm, der ganz anders aussieht, sitzt inmitten derselben Waren. Das geht vielleicht hun­dert Meter so weiter, zu beiden Seiten der gedeckten Pas­sage.  Es wird sozusagen alles auf einmal angeboten, was dieser größte und berühmteste Bazar der Stadt, des gan­zen südlichen Marokko an Lederwaren besitzt. In dieser Zurschaustellung liegt viel Stolz. Man zeigt, was man er­zeugen kann, aber man zeigt auch, wieviel es davon gibt. Es wirkt so, als wüßten die Taschen selber, daß sie der Reichtum sind, und als zeigten sie sich schön hergerichtet den Augen der Passanten. Man wäre gar nicht verwundert, wenn sie plötzlich in rhythmische Bewegung gerieten, al­le Taschen zusammen, und in einem bunten orgiastischen Tanz alle Verlockung zeigten, deren sie fähig sind.

Das Gildengefühl dieser Gegenstände, die von allen an­dersartigen abgesondert beisammen sind, wird vom Pas­santen für jeden Gang durch die Suks nach seiner Laune wiedergeschaffen. „Heute möchtc ich unter die Gewürze gehen“, sagt er sich und die wunderbare Mischung von Gerüchen steigt in seiner Nase auf und er sieht die großen Körbe mit dem roten Pfeffer vor sich. „Heute hätte ich Lust auf die gefärbten Wollen“, und schon hängen sie hoch von allen Seiten herunter, in Purpur, in Dunkelblau, in Son­nengelb und Schwarz. „Heute will ich unter die Körbe ge­hen und sehen, wie sie sich flechten.“

Es ist erstaunlich, wieviel Würde diese Gegenstände so bekommen, die der Mensch gemacht hat. Sie sind nicht immer schön, mehr und mehr Gesindcl von zweifelhafter Herkunft schleicht sich ein, von Maschinen erzeugt, aus den Ländern des Nordens eingeführt. Aber die Art, in der sie sich präsentieren, ist immer noch die alte.

Neben den Läden, wo nur verkauft wird, gibt es viele, vor denen man zusehen kann, wie die Gegenstände  erzeugt werden. So ist man von Anfang in dabei, und das stimmt den Betrach­ter heiter. Denn zur Verödung unseres modernen Lebens gehört es, daß wir alles fix und fertig ins Haus und zum Gebrauch bekommen, wie aus häßlichen Zauberappara­ten. Hier aber kann man den Seiler eifrig hei seiner Ar­beit sehen, und neben ihm hängt der Vorrat fertiger Seile. In winzigen Gelassen drechseln Scharen von kleinen Jun­gen, sechs oder sieben von ihnen zugleich, an Holz herum, und junge Männer fügen aus den Teilen, die ihnen von den Knaben hergestellt werden, niedrige Tischchen zusammen. Die Wolle, deren leuchtende Farben man bewundert, wird vor einem selbst gefärbt, und allerorts sitzen Knaben her­um, die Mützen in hübschen und bunten Mustern strik­ken.

Es ist eine offene Tätigkeit, und was geschieht, zeigt sich, wie der fertige Gegenstand. In einer Gesellschaft, die soviel Verborgenes hat, die das Innere ihrer Häuser, Ge­stalt und Gesicht ihrer Frauen und selbst ihre Gotteshäu­ser vor Fremden eifersüchtig verbirgt, ist diese gesteigerte Offenheit dessen, was erzeugt und verkauft wird, doppelt anziehend.

Eigentlich wollte ich den Handel kennenlernen, aber über den Gegenständen, die verhandelt wurden, verlor ich ihn, wenn ich die Suks betrat, immer erst aus den Au­gen. Naiv besehen erscheint es unverständlich, warum man sich einem bestimmten Kaufmann in Maroquinle­der zuwendet, wenn es daneben zwanzig andere gibt, de­ren Waren sich kaum von den seinen unterscheiden. Man kann von einem zum anderen gehen und wieder zum ersten zurück. Der Laden, in dem man kaufen wird, ist nie von vornherein sicher. Selbst wenn man sich diesen  oder jenen unter ihnen vorgenommen hätte, man hat jede Gele­genheit, sich eines anderen zu besinnen.

Der Passant, der außen vorübergeht, ist durch nichts, weder Türen noch Scheiben von den Waren getrennt. Der Händler, der mitten unter ihnen sitzt, trägt keinen Namen zur Schau, und es ist ihm, wie ich schon sagte, ein leichtes, überall hinzulangen. Dem Passanten wird jeder Gegenstand bereitwillig gereicht. Er kann ihn lang in der Hand halten, er kann lang darüber sprechen, er kann Fragen stellen, Zweifel äußern, und wenn er Lust hat, seine Geschich­te, die Geschichte seines Stammes, die Geschichte der gan­zen Welt vorbringen, ohne etwas zu kaufen. Der Mann unter seinen Waren ist vor allem eins: Er ist ruhig. Er sitzt immer da. Er sieht immer nah aus. Er hat wenig Platz und Gelegenheit zu ausführlichen Bewegungen. Er gehört sei­nen Waren so sehr wie sie ihm. Sie sind nicht weggepackt, er hat immer seine Hände oder seine Augen auf ihnen. Ei­ne Intimität, die verführerisch ist, besteht zwischen ihm und seinen Gegenständen. Als wären sie seine sehr zahlrei­che Familie, so bewacht er sie und hält sie in Ordnung.

Es stört und beengt ihn nicht, daß er ihren Wert genau kennt. Denn er hält ihn geheim und man wird ihn nie er­fahren. Das gibt der Prozedur des Handelns etwas Feu­rig-Mysteriöses. Nur er kann wissen, wie nah man seinem Geheimnis kommt, und er versteht sich darauf, mit Elan alle Stöße zu parieren, so daß die schützende Distanz zum Wert nie gefährdet wird. Für den Käufer gilt es als ehren­voll, sich nicht betrügen zu lassen, aber ein leichtes Unter­nehmen ist das nicht, da er immer im dunkeln tappt. In Ländern der Preismoral, dort wo die festen Preise herr­schen, ist es überhaupt keine Kunst, etwas einzukaufen. Jeder Dummkopf geht und findet, was er braucht, jeder Dummkopf, der Zahlen lesen kann, bringt es fertig, nicht angeschwindelt zu werden.

In den Suks hingegen ist der Preis, der zuerst genannt wird, ein unbegreifliches Rätsel. Niemand weiß ihn vor­her, auch der Kaufmann nicht, denn es gibt auf alle Fäl­le viele Preise. Jeder von ihnen bezieht sich auf eine ande­re Situation, einen anderen Käufer, eine andere Tageszeit, einen anderen Tag der Woche. Es gibt Preise für einzelne Gegenstände und solche für zwei oder mehrere zusammen. Es gibt Preise für Fremde, die nur einen Tag in der Stadt sind, und solche für Fremde, die hier schon drei Wochen leben. Es gibt Preise für Arme und Preise für Reiche, wobei die für die Armen natürlich die höchsten sind. Man möchte meinen, daß es mehr verschiedene Arten von Prei­sen gibt als verschiedene Menschen auf der Welt.

Aber das ist erst der Anfang einer komplizierten Affäre, über deren Ausgang nichts bekannt ist. Es wird behauptet, daß man ungefähr auf ein Drittel des ursprünglichen Prei­ses herunterkommen soll, doch das ist nichts als eine ro­he Schätzung und eine jener schalen Allgemeinheiten, mit denen Leute abgefertigt werden, die nicht willens oder au­ßerstande sind, auf die Feinheiten dieser uralten Prozedur einzugehen.

Es ist erwünscht, daß das Hin und Her der Unterhand­lungen eine kleine, gehaltreiche Ewigkeit dauert. Den Händler freut die Zeit, die man sich zum Kaufe nimmt. Argumente, die auf Nachgiebigkeit des anderen zielen, sei­en weit hergeholt, verwickelt, nachdrücklich und erregend. Man kann würdevoll oder beredt sein, am besten ist man beides. Durch Würde zeigt man auf beiden Seiten, daß ei­nem nicht zu sehr an Kauf oder Verkauf gelegen ist. Durch Beredsamkeit erweicht man die Entschlossenheit des Geg­ners. Es gibt Argumente, die bloß Hohn erwecken, aber andere treffen ins Herz. Man muß alles ausprobieren, be­vor man nachgibt. Aber selbst wenn der Augenblick ge­kommen ist nachzugeben, muß es unerwartet und plötz­lich geschehen, damit der Gegner in Unordnung gerät und einem Gelegenheit bietet, in ihn hineinzusehen. Manche entwaffnen einen durch Hochmut, andere durch Charme. Jeder Zauber ist erlaubt, ein Nachlassen der Aufmerksam­keit ist unvorstellbar.

In Läden, die so groß sind, daß man eintreten und um­hergehen kann, pflegt der Verkäufer sich gern mit einem zweiten zu beraten, bevor er nachgibt. Der zweite, der un­beteiligt im Hintergrund steht, eine Art geistliches Ober­haupt über Preise, tritt zwar in Erscheinung, aber er feilscht selbst nicht. Man wendet sich an ihn nur, um letzte Entscheidungen einzuholen. Er kann, sozusagen gegen den Willen des Verkäufers, phantastische Schwankungen im Preis genehmigen. Aber da er es tut, der selbst nicht mitgefeilscht hat, hat sich niemand etwas vergeben.

aus: Elias Canetti, „Die Stimmen von Marrakesch“, 1968 erschienen im Carl Hanser Verlag

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